Den kleinen Itzik dauert der Baum, der im Winter trostlos und einsam dasteht, und er beschließt, ein Vogel zu werden, im Baum zu überwintern und ihn zu trösten. Die fürsorgliche und gleichzeitig gnadenlose Liebe und Vorsorge der Mutter, der „jiddischen Mame“, vehindert jedoch, dass der Kleine flügge wird.
In einer weiteren Bedeutungsebene steht der Baum für die Mitte des letzten Jahrhunderts vom Untergang bedrohte jüdische Kultur.
Itzik Manger (1901 – 1969) ist einer der bedeutendsten jiddischen Poeten und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Oyfn veg shteyt a boym
אױפן װעג שטײט א בױם
Oyfn veg shteyt a boym, shteyt er ayngeboygn,
Ale feygl funem boym zaynen zikh tsefloygn.
Dray keyn mizrekh, dray keyn mayrev, un der resht – keyn dorem,
Un dem boym gelozt aleyn hefker far dem shturem.
Zog ikh tsu der mamen: -her, zolst mir nor nit shtern,
Vel ikh, mame, eyns un tsvey bald a foygl vern…
Ikh vel zitsn oyfn boym un vel im farvign
Ibern vinter mit a treyst mit a sheynem nign.
Zogt di mame: – nite, kind – un zi veynt mit trern –
Vest kholile oyfn boym mir farfroyrn vern.
Zog ikh: -mame, s’iz a shod dayne sheyne oygn
Un eyder vos un eyder ven, bin ikh mir a foygl.
Veynt di mame: – ltsik, kroyn, ze, um gotes viln,
Nem zikh mit a shalikl, kenst zikh nokh farkiln.
Di kaloshn tu zikh on, s’geyt a sharfer vinter
Un di kutshme nem oykh mit – vey iz mir un vind mir…
– Un dos vinter-laybl nem, tu es on, du shoyte,
Oyb du vilst nit zayn keyn gast tsvishn ale toyte…
Kh’heyb di fligl, s’iz mir shver, tsu fil, tsu fil zakhn,
Hot di mame ongeton ir feygele, dem shvakhn.
Kuk ikh troyerik mir arayn in mayn mames oygn,
S’hot ir libshaft nit gelozt vern mir a foygl…
Oyfn veg shteyt a boym, shteyt her ayngebogen,
Ale feygl funem boym zaynen zikh tsefloygn…
Text: Itzik Manger
Musik: P.Laskowski
Dicht am Weg steht ein Baum
Dicht am Weg steht ein Baum, tief herabgebogen,
Alle Vögel sind dem Baum lang schon fortgeflogen.
Drei gen Osten, drei gen West und der Rest gen Süden
Trostlos steht der Baum allein, wenn die Stürme wüten.
Also sag ich: „Mutter, hör, schaff mir nicht Beschwerde,
Wenn ich nunmehr eins, zwei, drei selbst ein Vogel werde.
Ich will sitzen auf dem Baum und ihn wiegen leise
Winterlang mit meinem Traum, einer schönen Weise.“
Ruft die Mutter: „Aber Kind!“ (ihre Tränen fließen)
„Auf dem Baume wirst du mir doch erfrieren müssen!“
„Deine Augen sind so schön, Mutter, lass das Weinen –
Bald steh ich in Federn da und auf Vogelbeinen.“
Weint die Mutter: „Itzik, Schatz, bind um Gotteswillen
Wenigstens den Schal dir um. Du wirst dich verkühlen!
Nimm noch die Galoschen mit, scharfe Winde wehen…
Setz die Lammfellmütze auf!“, höre ich sie flehen.
„Auch die warme Weste ist anzuziehn geboten,
Willst du nicht zu Gast einkehrn unten bei den Toten.“
Meine Flügel sind zu schwer. Gar zu viele Sachen
Tat die Vogelmutter um ihrem Kind, dem Schwachen.
Und ich schaue traurig in meiner Mutter Augen:
Ihre Liebe ließ mich wohl nicht zum Vogel taugen.
Übersetzung aus dem Buch: „Itzik Manger – Ich, der Troubadour“, aus dem Jiddischen von Andrej Jendrusch, Alfred Margul-Sperber und Hubert Witt