Der Singende Holunder und die kritische Masse
Die kritische Masse
Normalerweise ist es schon so: es gibt eine kritische Masse beim Publikum. Wenn die Leute eine halbe Stunde vor dem Konzert strömen und hinterher 50 bis 100 Leute im Kirchen- oder Konzertsaal sitzen, wissen wir, es wird alles gut. Die Masse allein macht es nicht, aber sie macht viel aus.
Kommen dagegen nur vereinzelt Leute, und sind es am Ende vielleicht 10 oder 20, so wird es schwieriger auf allen Ebenen.
Spielt man auf Eintritt, so kann man dieses Konzert finanziell gesehen abhaken. Wollen die Leute uns nicht sehen? Hat der Veranstalter schlecht geworben? Was mag der von uns denken? Und auch unabhängig von den Finanzen ist es bei wenigen Besuchern oft viel schwieriger, eine Atmosphäre aufzubauen.
Spielt man mit einer Festgage, so ist es ein Minusgeschäft für den Veranstalter. Was hab ich mir da für Leute eingeladen? Oder war meine Werbung so schlecht? Was mögen die Musiker von mir denken?
Aber auch für das Publikum kann es schwierig werden, wenn richtig wenig Leute da sind. Es will keine Atmosphäre aufkommen, manchmal fühlen sich die Zuhörer beoachtet, wenn unten kaum mehr Leute sitzen als oben.
Der Singende Holunder
Der Weiße Holunder ist eine Kneipe im Norden von Köln, zwischen Grüngürtel und Gereons-Viertel. Liebevoll eingerichtet im 50er Jahre Design, mit alten Möbeln, den Wänden voller alter Fotos und einer Jukebox. Seit vielen Jahren organisiert Jan Krauthäuser hier den Singenden Holunder. Jan ist eine sehr rührige Gestalt in der Kölner Kulturszene, er organisiert u.a. auch das Zigeuner- und das Edelweißpiraten-Festival.
Der Singende Holunder findet seit vielen Jahren jeden Sonntag um 18:00 statt. Jeder Abend steht unter einem bestimmten Motto, gedruckte Texthefte werden verteilt und eine treue Gemeinde sowie auch immer wieder neue Besucher singen zusammen mit der Band des Abends – griechische Trinklieder, russische oder jiddische Lieder, französische Chansons, bündische Fahrtenlieder, Tributes an die Beatles oder auch Johnny Cash und natürlich kölsche Lieder.
Wir waren mit Tangoyim früher öfters dabei, das letzte Mal 2017, und so haben wir uns gefreut, nach vier Jahren am 21.11.21 endlich mal wieder ein Mitsingkonzert im Holunder gestalten zu können. Die ausgewählten Texte lagen schon fertig zum Drucken da, doch die vierte Welle machte uns einen Strich durch die Rechnung. Kurz vorher entschieden wir, das Konzert nicht ganz ausfallen zu lassen, aber ein reines Zuhör-Konzert daraus zu machen.
Ein Mitsingkonzert ohne Mitsingen, die allgegenwärtige Angst und Verunsicherung durch Corona – es war schon klar, dass es nicht voll werden würde (und uns auch lieber so). Anfangs sah es dann eher so aus, als käme gar keiner, im Endeffekt hatten wir 12 Leute im Publikum. Doch von den oben erwähnten Schwierigkeiten keine Spur. Vom ersten Lied an hat uns ein wundervolles Publikum durch das Programm getragen. Dieses für uns bis auf Weiteres erstmal letzte Konzert, es war ein richtiges Wohlfühl-Konzert für beiden Seiten.
Hinterher fragte mich eine Zuhörerin, wie man denn diese „vibes“ auf jiddisch übersetzen würde. Die Antwort ist mir erst später eingefallen:
S’iz take geven a kishef – es war wirklich ein Zauber.
Fotos: Jan Krauthäuser