Anna Margolin
Das Gedicht „Di goldene pave“ (די גאָלדענע פּאװע) ist v.a. durch die Vertonung von Chava Alberstein bekannt. Eine Zeitlang war es in der Vertonung mit den Klezmatics in allen Tango-Salons sehr populär. Wir haben es 2014 für die CD „What Can You Makh“ aufgenommen und hatten es lange im Programm – auch heute noch gelegentlich (hach… Programm… hach… Konzerte…).
Anna Margolin
Rosa Lebensboym wurde am 21. Januar 1887 im heutigen Brest (Jiddisch: Brisk) in Weißrussland geboren. Sie erhielt eine weltliche europäische Ausbildung und war eine sehr gute Schülerin.
Bekannt wurde sie als Anna Margolin, veröffentlichte aber auch unter anderen Pseudonymen wie Sofia Brandt und Clara Levin.
Mit achtzehn, reiste sie zum ersten Mal nach New York, um sich auf eine Aufnahmeprüfung für die Universität vorzubereiten. Anstatt sich in die Schule einzuschreiben, tauchte sie ein in das intellektuelle und künstlerische Leben der Lower East Side und engagierte sich für Chaim Zhitlowsky und seinen Kreis. Ihre ersten Geschichte veröffentlichte sie in der jüdischen anarchistischen Zeitung Free ארבעטער שטימע „Fraye arbeter shtime / Free Voice of Labour“, deren Redaktion sie ebenfalls beitrat.
Anna Margolin reiste in den nächsten Jahren nach Warschau, Odessa, London, Paris und Palästina. 1913 kehrte sie endgültig nach New York zurück und trat der Redaktion von The טאג, „Der tog / The Day“ bei, in der sie eine Kolumne mit dem Titel „In der froyen velt / In the women’s world“ schrieb. 1929 wurde Margolins einziger Gedichtband, Lider (Poems), veröffentlicht. Ihr enger Freund und späterer Ehemann Reuben Island (Ruven Ayzland) beschrieb ihr in Briefen, wie die jiddische Intelligenz darüber streiten würde, wer der unbekannte Autor ihrer Gedichte sein könnte und wie „die allgemeine Meinung ist, dass es sicherlich ein Mann sein muss… diese Gedichte werden von einer erfahrenen Hand geschrieben. Und so kann eine Frau nicht schreiben.“
Außer diesem Gedichband wurde noch eine weitere Sammlung mit Gedichten posthum unter dem Namen „Drunk from the Bitter Truth“ veröffentlicht.
Margolins Gedichte beschäftigen sich mit der Entfremdung von Frauen in der Gesellschaft, mit der Sexualität von Frauen und mit Themen wie Angst und Einsamkeit. Sie starb 1952 in New York.
(Text nach einem Artikel in yiddishkayt.org)
mit halb farmakhte oygn
zitsndik bam tish in groyen zal,
foyl un umruik zikh viklendik in shal,
kuk ikh den af dir?
ruf dikh den tsu mir?
nor royter iz mayn moyl atsind,
un di halb farmakhte oygn
mit a roykh fartsoygn.
nor farfleytst bin ikh fun roysh un likht,
un dayn gezikht ze ikh durkh nepl un flam,
un af di lipn iz sharf der tam
fun zun un vint.
nor ikh tsi zikh aruf mit farshtiktn geshrey,
ikh vaks flaterndik, fiberdik azoy {azey},
un dos vaksn tut vey.
farrukt in vinkl fun dem groyen zal,
in di lange flamendike faldn fun shal,
kuk ikh den af dir?
ruf dikh den tsu mir?
nor ikh hob veytiklekh, un tif, un blind
mit halb farmakhte oygn
dikh ayngezoygn.
מיט האַלב פֿאַרמאַכטע אױגן
זיצנדיק באַם טיש אין גרױען זאַל,
פֿױל און אומרויִק זיך װיקלענדיק אין שאַל,
קוק איך דען אױף דיר?
רוף דיך דען צו מיר?
אור רױטער איז מײַן מױל אַצינד,
און די האַלב פֿאַרמאַכטע אױגן
מיט אַ רױך פֿאַרצױגן.
נאָר פֿאַרפֿלײצט בין איך פֿון רױש און ליכט,
און דײַן געזיכט זע איך דורך נעפּל און פֿלאַם,
און אױף די ליפּן איז שאַרף דער טעם
פֿון זון און װינט.
נאָר איך צי זיך אַרױף מיט פֿאַרשטיקטן געשרײ,
איך װאַקס פֿלאַטערנדיק, פֿיבערדיק אַזױ {אַזײ},
און דאָס װאַקסן טוט װײ.
פֿאַררוקט אין װינקל פֿון דעם גרױען זאַל,
אין די לאַנגע פֿלאַמענדיקע פֿאַלדן פֿון שאַל,
קוק איך דען אױף דיר?
רוף דיך דען צו מיר?
נאָר איך האָב װײטיקלעך, און טיף, און בלינד
מיט האַלב פֿאַרמאַכטע אױגן
דיך אײַנגעזױגן.
Mit halb geschlossenen Augen
Hingesetzt am Tisch in einem grauen Saal,
Müßig, unruhig, bin versteckt in meinem Schal,
Seh ich denn zu dir?
Ruf ich dich zu mir?
Nur mein Mund ist röter jetzt
Und die Augen halb geschlossen,
Mit dem rauchigen Verzagen.
Dann bin ich überschwemmt von Lärm und Licht,
Seh durch Flammen, Nebel dein Gesicht.
Scharf ist der Geschmack auf meinen Lippen
Von Sonne und Wind.
Dann weck ich mich mit einem halberstickten Schrei,
Und erwache zitternd, fiebernd,
Und das Erwachen tut so weh.
Versteckt in einer Ecke des grauen Saals,
In den langen, flammenden Falten des Schals,
Schau ich denn zu dir?
Ruf ich dich zu mir?
Nein, ich hab ein bisschen feig, und tief und blind,
Mit halb geschloss’nen Augen
Dich eingesogen.
Nachdichtung Paul Spinger Januar 2009