Das Tagebuch der Anne Frank
„Du kennst seit langem meinen Lieblingswunsch, einmal Journalistin und später eine berühmte Schriftstellerin zu werden. Ob diese Neigung zum Größenwahn (oder „Wahnsinn“) jemals Wirklichkeit werden wird, muß sich noch zeigen, aber Themen habe ich bis jetzt reichlich. Nach dem Krieg will ich auf jeden Fall ein Buch herausgeben: das Hinterhaus. Ob das glückt, ist noch die Frage, aber mein Tagebuch ist die Grundlage dafür.“
aus Anne Frank’s Tagebuch, 12.05.1944
Acht Menschen leben zwei Jahre lang auf engstem Raum (zwei versteckte kleine Wohnungen im Hinterhaus eines Kontors in Amsterdam) zusammen, ohne die Möglichkeit, das Haus zu verlassen oder sich großartig aus dem Weg gehen zu können.
Eine von ihnen die 14jährige Anne. Ihr Tagebuch ist eine Beschreibung des Lebens in dieser Extremsituation, auch ein Zeitzeugnis der Stimmung in den Niederlanden 1943/44. Vor allem aber ist es das Tagebuch eines intelligenten, aufmerksamen und doch auch ganz typischen pubertierenden Mädchens:
der schonungslose Blick auf die Marotten und Eigenarten der Erwachsenen, die in dieser Situation besonders zu Tage treten; das schwierige Verhältnis zu den Eltern, das zur Mutter eher kühl, während sie ihren Vater liebt und verehrt und gerade dadurch große Probleme mit ihm hat; die Verliebtheit eines Backfisches (so nennt sie sich, und das Wort kenne ich von meiner Mutter, die – seltsame Vorstellung – zehn jahre älter ist als Anne Frank und immer noch lebt); und vor allem die ständige Selbstkritik und die ständigen Selbstzweifel, der unbedingte Wille, zu lernen, sich zu verbessern, ein guter Mensch zu werden.
Drei Tage nach ihrem letzten Eintrag wird das Hinterhaus entdeckt und geräumt, ein halbes Jahr später stirbt Anne Frank im Vernichtunslager Bergen-Belsen. Und wieder zeigt sich: ein Schicksal, das man kennenlernt und nachlebt, kann mehr erschüttern als jede abstrakte Zahl, und seien es sechs Millionen.